Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen – BKMO (ein Netzwerk aus 40 Migrantenorganisationen) stellt heute ihre Antirassismus Agenda 2025 vor.
Nach den Anschlägen in Halle und Hanau und dem Mord an Walter Lübcke wurde auf Druck von Migrant*innenorganisationen ein „Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus“ gegründet. Am 2. September 2020 trifft er sich unter der Leitung der Bundeskanzlerin mit zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteur*innen sowie weiteren Verbänden. Wir begrüßen das ausdrücklich. Schon zulange trägt die Untätigkeit der Politik dazu bei, dass Rassismus tötet und Lebenschancen zerstört. Ein „Weiter so” darf es nicht geben.
Allerdings reicht es nicht, sich mit Extremismus und Gewalt zu beschäftigen. Wer die Ungleichbehandlung von Menschen aus Einwandererfamilien bekämpfen will, muss einen radikalen Paradigmenwechsel in der politischen Rhetorik und der Migrations- und Teilhabepolitik vornehmen. In diesem Sinn ist für uns nicht nachvollziehbar, warum die Ressorts für Gesundheit und Arbeit nicht im Rassismus-Kabinett eingebunden sind. Wir haben es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem und Querschnittsthema zu tun.
Im Juli hat die BKMO einen Expert*innenkreis eingerichtet, der die Arbeit des Kabinettsausschusses kritisch begleitet. Er hat eine „Antirassismus-Agenda 2025“ erarbeitet, ein umfassendes Reformpaket für eine rassismusfreie Gesellschaft. Darin finden sich konkrete Forderungen an die Politik, mit Zielen und Indikatoren für die nächsten fünf Jahre, damit im Einwanderungsland Deutschland endlich Rassismus, auch institutioneller und struktureller Rassismus effektiv bekämpft wird. Mit der Agenda stellen wir sicher, dass zukünftige Beschlüsse der Bundesregierung fortwährend mit den Forderungen von Migrant*innen- und postmigrantischen Organisationen abgeglichen werden können.
Gut ein Viertel, also rund 25 Prozent der Bevölkerung in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Wir reden hier von Abermillionen von Menschen, die tagtäglich damit zu kämpfen haben, dass sie wegen ihres Namens, ihres Aussehens oder ihres Glaubens anders behandelt werden und Nachteile erfahren – nicht nur durch individuelles Handeln Einzelner, sondern auch durch das Bildungssystem, durch Polizeiarbeit wie beispielsweise bei „Racial Profiling“, durch Behördenstrukturen und vielem mehr. Mit gutgemeinten Gesten und halbherzigen Maßnahmen darf dieses gesellschaftliche Problem nicht mehr abgespeist werden.
Folgende Handlungsempfehlungen sieht der Begleitausschuss als essenziell an:
- Wir fordern eine gesetzlich verankerte Definition von Rassismus auch in institutioneller und struktureller Form, um den Staat und die Behörden handlungsfähiger zu machen.
- Wir fordern eine dauerhafte, institutionelle Verankerung der Themen auf allen politischen Ebenen. Es braucht
- einen „Partizipationsrat Einwanderungsgesellschaft“, der vergleichbar mit dem Deutschen Ethikrat auf rechtlicher Grundlage mit Empfehlungen an der Erarbeitung von Gesetzestexten mitwirkt und Diskussionen öffentlich begleitet und versachlicht.
- eine Enquete Kommission vom Bundestag zum Thema Rassismus, die unter anderem endlich die Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Ausschusses und des UN-Antirassismus-Ausschusses (ICERD) vorantreibt.
- ein Partizipationsgesetz, das die Gleichstellung mit Quoten für Menschen mit Migrationsgeschichte, die von Rassismus betroffen sind, gemäß ihres Bevölkerungsanteils im öffentlichen Dienst vorsieht. Dazu zählt auch eine verpflichtende intersektionale und diversitätsorientierte Organisationsentwicklung der Bundesbehörden. Dazu zählt auch ein Diversitybudgeting für den Bundeshaushalt und die langfristige strukturelle Förderung von Organisationen von Schwarzen Menschen und People of Color.
- ein progressives Ministerium für die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft:
Die Themenfelder Teilhabe und Chancengleichheit in der Einwanderungsgesellschaft sollen in einem neuen Ministerium verankert werden, das die Zuständigkeiten zur Gleichstellung von Menschen mit Migrationsgeschichte und Menschen die Rassismus erfahren und Antirassismus vereint. Unter dem Dach dieses Ministeriums sollte auch die Umsetzung einer progressiven und menschenrechtsbasierten Asyl-, Integrations- und Migrationspolitik verantwortet werden. Wir fordern einen Paradigmenwechsel in der gesamten Migrationspolitik und eine Abkehr vom bisherigen Grundtenor (Migration als Bedrohung und Regulierungsproblem). Damit das gelingt, muss Migrationspolitik vom Bundesinnenministerium als dem Sicherheitsressort abgekoppelt werden.
- Der Diskriminierungsschutz muss gestärkt werden
Gleichbehandlung und Schutz vor rassistischer und weiterer Diskriminierung müssen durchsetzbar sein und nicht nur auf dem Papier stehen. Deshalb muss das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dringend reformiert werden, da die Praxis zeigt, dass es unzureichend ist. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat das Gesetz 2016 evaluieren lassen. Daraus lassen sich zahlreiche notwendige Änderungen ableiten. Gesetzesänderungen allein reichen aber nicht aus. Es braucht auch flächendeckend qualifizierte Antidiskriminierungsberatungsstellen, die Betroffene von rassistischer Diskriminierung bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen.
- Neues Staatsziel – Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft und Antirassismus
Es braucht die Aufnahme eines neuen Staatsziels ins Grundgesetz als Art. 20b: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert die gleichberechtigte Teilhabe, Chancengerechtigkeit und Integration aller Menschen.“ Dadurch wird in der Verfassung verankert, dass alle staatlichen Ebenen zur Umsetzung dieses Staatsziels verpflichtet sind. Zudem ist die Förderung von Teilhabe und Vielfalt als Gemeinschaftsaufgabe sowie eine Anti-Rassismusklausel im GG zu verankern, wie es sie beispielsweise in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen-Anhalt schon gibt.
- Politische Teilhabechancen von Drittstaatler*innen erweitern
Es ist wichtig, dass die Schnittmenge zwischen Wohnbevölkerung und Wahlbevölkerung möglichst groß ist. Denn eine plurale Gesellschaft braucht eine starke Demokratie mit Perspektivenvielfalt. Dass sich momentan Millionen Menschen mit Einwanderungsbiografien nicht, oder nicht entsprechend bei politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen können, schwächt unsere demokratische Streitkultur. Konkret fordern wir:
- Eine Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts für alle Einwohner*innen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Das allgemeine Wahlrecht sollte nicht vom Pass sondern von einer Mindestaufenthaltsdauer bestimmt werden. Wer seit fünf Jahren über einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland verfügt, soll auch das allgemeine Wahlrecht erhalten.
- Eine liberalere Einbürgerungspolitik, die u.a. die Mehrstaatigkeit für alle hinnimmt und den sogenannten „Leitkulturparagrafen“ zurücknimmt. Ein stärkeres Bewusstsein und Handlungsrichtlinien in den politischen Parteien, um Menschen mit Einwanderungsbiografien mehr Repräsentanz in ihren internen Strukturen, ihren Wahllistenplätzen und Funktionen zu schaffen – auch über die Integrationspolitik hinaus.
Die Verfasser der Agenda, die Mitglieder des Begleitausschusses, stellen fest:
Die Bundesregierung muss im Oktober ein Maßnahmenpaket vorlegen, das ihrem selbstgesteckten Ziel gerecht wird: „eine Rechtsextremismus- und rassismusfreie und chancengerechte Einwanderungsgesellschaft zu schaffen“. Der Kabinettsausschuss wird sich daran messen lassen müssen. Wir werden unsere Forderungen mit den Beschlüssen des Kabinettsausschusses abgleichen und Fortschritte bzw. Versäumnisse regelmäßig evaluieren.
Pressekontakt:
Dr. Cihan Sinanoglu
Geschäftsführer des Begleitausschusses der BKMO
Türkische Gemeinde in Deutschland e.V.
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