Am 25. November 2020 veröffentlichte der Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus seinen Maßnahmenkatalog. Das 89-Punkte-Papier ist vom Expert:innenrat der BKMO auf dem aktuellen Bearbeitungsstand als wenig belastbar zu bewerten, denn es fehlen u.a. sämtliche Angaben zu Zuständigkeiten, Terminen, überprüfbaren Indikatoren, ausreichenden und verbindlichen neuen Budgets und notwendigen Prozessen.
Der Maßnahmenkatalog der Bundesregierung
Maßstab unserer Bewertung des Maßnahmenkatalogs der Bundesregierung ist u.a. das Ziel, dass sich die Bundesregierung selbst gesteckt hat in ihrem Berichtsauftrag vom 20. Mai 2020: „Die Aufgabe des Kabinettausschusses besteht darin, ein wirksames Maßnahmenpaket zu erarbeiten, das langfristig darauf hinwirkt, eine von Rechtsextremismus und Rassismus freie und chancengerechte Gesellschaft – auch Einwanderungsgesellschaft – im Einklang mit den Verfassungswerten zu schaffen.”
Aus fachlicher Perspektive betrachtet, handelt es sich um ein 89–Punkte–Papier, das seine Wirkung in der Öffentlichkeit und in der Presse nicht verfehlt hat. Im Vergleich zu den vielen vorgelegten Papieren unterschiedlicher Expert:innen, wie der Anti-Rassismus Agenda 2025 der BKMO, lässt das Bündel an Maßnahmen aber keine Gesamtstrategie der Bundesregierung erkennen. Im „Katalog der Maßnahmen“ fehlt eine dauerhafte, institutionelle Verankerung der Auseinandersetzung mit Rassismus auf allen politischen Ebenen und eine dringend notwendige Definition der verschiedenen Formen von Rassismus, insbesondere in struktureller und institutioneller Hinsicht.
Die sich durch die Arbeit des Kabinettsausschusses ergebende Chance, hatte die Hoffnung geweckt, dass sich die Verantwortlichen der beiden Regierungsparteien nach Halle und Hanau jenseits parteipolitischer und wahltaktischer Erwägungen zusammensetzen, um eine wirksame und konsequente Arbeit gegen Rassismus zu einer Grundlage des Zusammenlebens zu machen.
Stattdessen liest sich das Paket wie das Ergebnis üblicher Rezepte: Sammeln, was wir schon haben (und irgendwie unter Anti-Rassismus fassen können), noch einige neue Maßnahmen hinzufügen und eine beeindruckende Summe voranstellen (mit überwiegend bereits bekannten Haushaltsansätzen, die zusammengefasst wurden), die suggeriert, man würde keine Kosten scheuen. Fertig ist der Maßnahmenkatalog.
Positiv gelesen ist der Maßnahmenkatalog schlicht veröffentlicht worden, bevor eine Strategie, ein Zeitplan und konkrete Angaben zur Umsetzung (Budget, Zuständigkeiten, Zusammenarbeit und Absprachen mit Expert:innen und Menschen aus den rassismuserfahrenen Communities und mit der Zivilgesellschaft im Allgemeinen) erfolgt sind. Die konzeptionelle und strategische Schwäche macht deutlich, wie dringend ein neues Bundesministerium benötigt wird, das den Weg für eine rassismus- und diskriminierungsfreie sowie chancengerechte Einwanderungsgesellschaft mit Nachdruck begleitet.
Keine Gesamtstrategie erkennbar!
Wie die Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall, kann der Maßnahmenkatalog des Kabinettsausschusses im Hinblick auf eine wirksame und institutionell verankerte Bekämpfung von Rassismus nur als eine verpasste Chance der gesellschaftlichen Neugestaltung betrachtet werden. Schon vor dreißig Jahren wurde die Aufarbeitung der Geschehnisse in den 80er und 90er Jahren unter Berücksichtigung der spezifischen historischen Entwicklung in Ost- und Westdeutschland/ in den Ost- und Westbundesländern nicht als Anlass genommen, die jahrhundertelange Tradition des Rassismus in Deutschland ins Visier zu nehmen und einen grundlegenden gesellschaftlichen Dialog sowie angemessene Maßnahmen zu initiieren. Stattdessen wurde der Mythos der Einzeltäter bemüht oder der Mythos des Problems der Anderen bekräftigt. In dieser Tradition reiht sich die Missachtung von Antidiskriminierungsarbeit gegenüber der (begrüßenswerten) Verstärkung des Opferschutzes im Bereich der Sicherheit ebenso ein wie eine Art „Gefahrenprognose“, in der eine bestimmte Deutung der Herausforderungen Ostdeutschlands als Sicherheitsproblem mitschwingt. Rassismus sollte endlich als historisch gewachsenes Phänomen anerkannt und als solches bekämpft werden.
Es ist auffällig, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes als die zentrale, gesetzlich verankerte Institution für Antidiskriminierungsstrategien in keiner Weise Erwähnung findet! Statt den Empfehlungen internationaler Menschenrechtsinstitutionen zu folgen und die ADS zu einer starken und unabhängigen Antidiskriminierungsstelle zu entwickeln (die ADS ist eindeutig das Beratungszentrum gegen Rassismus auf der Bundesebene!), werden Parallelstrukturen in einem neuen Beratungszentrum aufgebaut, das dann an regionale Strukturen verweist, die größtenteils nicht bestehen.
Sie suchen nach einer Gesamtstrategie?
- Wie wäre es, wenn als Teil dieser Strategie flächendeckend Beratungsstellen entstehen würden, an die Menschen überhaupt verwiesen werden können? Es kann keinen effektiven Schutz vor Rassismus geben ohne Antidiskriminierungsarbeit und -beratung.
- Als weiteren fehlenden Baustein der Strategie wird es im Bereich der Antidiskriminierungsgesetzgebung offenbar bis auf die Fristverlängerungen keine Verbesserungen geben. Wir stellen fest, dass nicht einmal die dringend notwendige Novellierung des AGG in dieser Regierung konsensfähig ist, geschweige denn eine Ausweitung auf den Geltungsbereich der öffentlichen Hand.
- Des Weiteren fehlen trotz eher vager Erwähnung in dem gesamten Maßnahmenkatalog konkrete Hinweise darauf, wie eine gemeinsame, für alle Gesetze, Vorschriften und Rechtstexte verbindliche Definition erarbeitet wird. Eine solche Definition ist allerdings wiederum eine der Voraussetzungen für beispielsweise nachhaltigen Abbau von Diskriminierungen in staatlichen Institutionen.
- In der starken Fokussierung auf den Opferschutz im Maßnahmenkatalog spiegelt sich die Abwehr wieder, Rassismus als ein Phänomen, das in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, anzuerkennen. Diskriminierungsrisiken können nicht ohne geänderte gesetzliche Grundlagen, veränderte Vorschriften, und institutionelle Praxis abgebaut werden.
Unsere Forderungen – Agenda 2025
Wir fordern eine Überarbeitung des Maßnahmenpakets und Entwicklung einer Strategie im Sinne der Anti-Rassismus Agenda 2025. Die in ehrenamtlicher Arbeit entwickelte Agenda 2025 ist nicht perfekt, doch konkreter und zielführender als der vorgelegte 89–Punkte–Katalog der Bundesregierung.
Kern einer Gesamtstrategie, wie sie in der Agenda 2025 definiert ist, ist eine feste, institutionelle Verankerung und ebenenübergreifende Verzahnung, die die gesetzgebende (Legislative), ausführende (Exekutive) und rechtsprechende (Judikative) Gewaltenteilung gleichermaßen einbezieht. Maßnahmen einer Gesamtstrategie wirken nur im Zusammenspiel. Deshalb beziehen sich unsere Kernforderungen aufeinander:
- Eine verbindliche Definition von strukturellem und institutionellem Rassismus sowie Alltagsrassismus basierend auf internationalen Standards, die handlungsleitend auch für die öffentliche Hand wirkt,
- eine ständige Enquête-Kommission im Bundestag, die die Opposition, aber auch Expert:innen und die Zivilgesellschaft einbezieht,
- ein Partizipationsgesetz, das bindende Grundlagen für ein diversitätsorientiertes Gesellschaftsbild schafft,
- ein „Partizipationsrat Einwanderungsgesellschaft“, der vergleichbar mit dem Deutschen Ethikrat auf rechtlicher Grundlage u.a. mit Empfehlungen an der Erarbeitung von Gesetzestexten mitwirkt,
- sowie ein neues, progressives Bundesministerium, das die Zuständigkeiten zur Gleichstellung von Menschen mit Migrationsgeschichte und Menschen, die Rassismus erfahren, und Antirassismus vereint, ebenso eine menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik.
- Gleichzeitig fordern wir die Aufnahme eines neuen Staatsziels ins Grundgesetz als Art. 20b: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert die gleichberechtigte Teilhabe, Chancengerechtigkeit und Integration aller Menschen.“ Dadurch wird in der Verfassung verankert, dass alle staatlichen Ebenen zur Umsetzung dieses Staatsziels verpflichtet sind. Zudem ist die Förderung von Teilhabe und Vielfalt als Gemeinschaftsaufgabe sowie eine Anti-Rassismusklausel mit Gewährleistungspflicht im GG zu verankern.
- Eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Zukünftig werden Demokratieförderung, Rassismusprävention, Engagement für die vielfältige Gesellschaft und Empowermentarbeit als gemeinnützig anerkannt.
Diese Maßnahmen erfordern einen permanenten Dialog, statt punktueller Konsultationen.
Darüber hinaus mag es zu begrüßen sein, wenn Politik, Wissenschaft und Forschung quantitative Forschung und damit die zahlenmäßige Überprüfung der Relevanz sowie der Aussagen oder Theorien von Wissenschafler:innen der Rassismusforschung, der Rassismus-erfahrenen und der zivilgesellschaftlichen Expert:innen ermöglichen.
- Gleichzeitig fordern wir, dass im Bereich der Wissenschaft und Forschung der Schwerpunkt auf universitäre Forschung zu institutionellem Rassismus gelegt wird. Nur so können auch aussagekräftige Analysen hinsichtlich institutioneller Diskriminierung ermöglicht werden, die über Erhebungen zu gesamtgesellschaftlichem Wissen über Rassismus hinausgehen.
Wir weisen darauf hin, dass der im Maßnahmenkatalog des Kabinettsausschusses benannte „Beirat zur Förderung der wehrhaften Demokratie und gegen Rechtsextremismus und Rassismus“ in der Exekutive verankert wurde. Im Gegensatz zu dem von der BKMO vorgeschlagenen „Partizipationsrat“ sind dem Rat der Bundesregierung damit keine Befugnisse gegeben, z.B. Gesetze vorab auf eine rassistische Wirkung überprüfen zu können. Ohne diese Vorabprüfung und die weiteren von der BKMO vorgeschlagenen Maßnahmen ist ein Paradigmenwechsel hin zur Gestaltung einer chancengerechten Einwanderungsgesellschaft kaum möglich.
Außerdem fordert die BKMO:
- Eine Abschaffung der Asyllager und eine neue menschenwürdige und einwanderungsfreundliche Grundlage der Außen-, Außenwirtschafts- und Einwanderungspolitik, um Tragödien von Moria, dem Sterben im Mittelmeer und in der Wüste in Abstimmung mit europäischen und internationalen Partner:innen ein Ende zu setzen.
- Eine Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts für alle Einwohner:innen, die seit min. 5 Jahren in Deutschland leben.
- Ein Einbürgerungsrecht mit Hinnahme der Mehrstaatigkeit, die für alle Antragsteller:innen gilt, insbesondere auch für die 1. Generation der Eingewanderten.
- Konkrete, verpflichtende Handlungsrichtlinien innerhalb der politischen Parteien, damit Menschen mit Einwanderungsbiographien mehr Repräsentation/ Mandatsplätze in Parlamenten, sowie Funktionen in den Parteigremien erlangen können. Die fehlende Erweiterung politischer Teilhabechancen von Drittstaatler:innen widerspricht der Definition und schwächt die Praxis eines demokratischen, politischen Systems.
- Selbstverständlich muss der Opferschutz verstärkt werden – aber eben auch die Antidiskriminierungsberatung. Auch dafür ist eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes dringend notwendig. Gesetzesänderungen allein reichen aber nicht aus. Wir fordern im Bereich der Antidiskriminierungsarbeit daneben flächendeckend qualifizierte Antidiskriminierungsberatungsstellen, die rassismuserfahrene Menschen im Falle einer Diskriminierung bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen.
Der Weg nach vorne
Wir erwarten von der Bundesregierung eine Überarbeitung des Maßnahmenpakets: Dieser Prozess sollte mit öffentlichen Anhörungen im Sinne von Town-Halls und öffentlichen Anhörung im Kabinettsausschuss und im Deutschen Bundestag beginnen. Bei der konkreten Ausgestaltung der bisher beschlossenen Maßnahmen fordern wir beteiligt zu werden – insbesondere auch bei dem geplanten „wehrhafte Demokratiegesetz”.
Es braucht völlig neue Formate der Zusammenarbeit mit der erfahrenen Zivilgesellschaft und mit Wissenschaftler:innen und Vertreter:innen der Interessenvertretungen von rassismuserfahrenen Menschen. Ihre aktive Mitwirkung muss mit der Konzeption dieser Formate beginnen, um die fachliche Qualität und Effektivität bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien gegen Rassismus und Rechtsextremismus zu erhöhen.
Den Vertreter:innen der Interessenvertretungen von rassismuserfahrenen Menschen und Wissenschaftler:innen muss ernsthaft die Möglichkeiten eröffnet werden, mit ihrer Expertise für ein Verständnis von Rassismus zu sorgen, das den Weg zu einer Einwanderungsgesellschaft ebnet. Dies gilt auch für die UN-Dekade für Menschen mit afrikanischen Vorfahren, die Auswertung der EU-Dekade für die Integration der Roma und die EU-Roma-Strategie 2030. Dies gilt für alle Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, einschließlich Menschen mit afrikanischen Vorfahren und Schwarze Menschen, Muslim:innen, Jüdinnen und Juden, Sinti:zze und Rom:nja und asiatisch-diasporische Menschen. Eine solche Vorgehensweise sollte auch für internationale und EU-Instrumente und Kampagnen wie die UN-Dekade für Menschen mit afrikanischen Vorfahren, die Auswertung der EU-Dekade für die Integration der Roma und die EU-Roma-Strategie 2030 Anwendung finden. Die Verantwortung für den Kampf gegen (institutionellen und strukturellen) Rassismus und Rechtsextremismus kann weder durch Förderprogramme vor allem an die Zivilgesellschaft delegiert werden, noch sollte sie im Kontext Integration verhandelt werden.
Da wir nicht auf die Bundesregierung warten, werden wir die Agenda 2025 der BKMO dem Maßnahmenpaket der Bundesregierung tabellarisch gegenüberstellen und Anfang 2021 veröffentlichen.
Wir werden im Sinne migrantischer und postmigrantischer Allianzen für 2021 eine digitale Konferenz planen und hier die gemeinsame Arbeit bezüglich des Maßnahmenpakets vertiefen. Wir wollen mit vielen Weiteren die Maßnahmen und den Bericht des Kabinettsausschusses in gemeinsamen Bündnissen multiperspektivisch prüfen und dafür sorgen, dass die großen Versäumnisse der Bundesregierung – beispielsweise einen Mechanismus zur regelmäßigen Überprüfung der Wirksamkeit des Maßnahmenkatalogs vorzusehen – ansatzweise ausgeglichen werden können.
Der Vertreter:innenrat der BKMO
Michael AlliMadi, Panafrikanische Organisation; Galina Ortmann, Bundesverband interkultureller Frauen; Sami Dzemailovski, Verband für interkulturelle Wohlfahrtspflege Empowerment und Diversity; Karen Taylor, Each One Teach One (EOTO); Ehsan Djafari, Iranische Gemeinde in Deutschland; Dr. Kamila Schöll-Mazurek, Polnischer Sozialrat e.V.; Marianne Ballé Moudoumbou, Pan African Women’s Empowerment and Liberation Organisation; Mamad Mohamad, Landesnetzwerk Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt; Susanna Steinbach, Türkische Gemeinde in Deutschland e.V.; Dunja Khoury, Verband Deutsch-Syrischer Hilfsvereine; Efe Ural, Young Voice TGD; Meral El, neue deutsche organisationen; José Manuel Paca, Dachverband der Migrantenorganisationen in Ostdeutschland
Der Begleitausschuss der BKMO
Eva Andrades, Antidiskriminierungsverband Deutschland; Ferda Ataman, neue deutsche organisationen e.V.; Farhad Dilmaghani, DeutschPlus e.V.; Sara Djahim, korientation e.V.; Emran Elmazi, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma; Martin Gerlach, Türkische Gemeinde in Deutschland e.V.; Saraya Gomis, Each One Teach One (EOTO) e.V.; Mamad Mohamad, Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V.; Dr. Deniz Nergiz, Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat; Dr. Marta Neüff, Polnischer Sozialrat e.V